Tunesien hat einen Schatz zurückerobert, als es sich von Ben Ali befreite: Die individuellen und kollektiven Freiheiten.
Klammer auf. „Ich bin im August 2010 nach Tunesien gezogen. Dort begrüßte mich das Regime von Ben Ali und konfiszierte die 40 Kartons mit Büchern und Heften, die ich mitnehmen wollte. Sechs Monate lang versauerten sie in einem Lager an der Grenze von Radès. Zwischenzeitlich wollte das Innenministerium eine Liste meiner Bücher und DVDs haben. Bei meinem ersten Termin blätterte ein Beamter in der Avenue Bourguiba Nr. 7 die zwölf Seiten durch, auf denen Romane und Essais aufgelistet waren. „Madame Bovary ist der Autor, Gustave Flaubert der Titel, das kenne ich nicht“, sagte der kleine kahlköpfige Mann. Ich verstand. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich nicht so blöd war und Bücher wie “Die Regentin von Karthago”(1) eingepackt habe. Dass ich das gelesen und in Paris gelassen habe. Der ungebildet Zensor hatte keinen Sinn für Ironie und legte meine Liste in einen Ordner. Ende des Gesprächs.
Februar 2011. Der Tyrann ist vor der Wut des Volkes geflüchtet, das Regime untergegangen. Ich fahre mit einem Laster zur Grenze, um meine Bücher abzuholen. Innerhalb von zwei Minuten ist das erledigt. Ein Lagerarbeiter führt mich mit ergriffenem Blick in ein Lager. Er öffnet eine große Tür, und ich erblicke ein fürchterliches Chaos: Vom Boden bis unter die Decke stehen stapelweise Paletten voller Bücher, die an der Grenze beschlagnahmt wurden. Er zeigt mit dem Finger auf eine Schulausgabe von „Les Misérables“ („Die Elenden“ von Victor Hugo), die vom Regime des Tyrannen als gefährlich eingestuft worden war. Hunderte von Büchern schimmeln dort vor sich hin. Ich verlasse den Ort – zufrieden und entsetzt über diese tunesische Ausführung des Werkes von Ray Bradbury. Aber Fahrenheit 451 ist nun zu Ende.“ Klammer zu.
Meinen Freunden in Tunesien, die aufgrund der aktuellen Schwierigkeiten sehr ausgelaugt sind (Massenarbeitslosigkeit, Inflation, vielerlei Missstände und Unruhen) und allen, bei denen bereits eine Nostalgie aufkommt, wenn sie an Ben Ali zurückdenken, erzähle ich diese missliche Anekdote. Eine Zusammenfassung von 23 Jahren Diktatur – 23 Jahre, in denen es verboten war zu denken, zu lesen, zu schreiben, seine Meinung zu sagen. Diese dunkle Epoche ist vorbei. Es mag viele Probleme im täglichen Leben geben, aber heute kann man frei sprechen, denken, seine Meinung sagen, schimpfen, jemandem widersprechen, Witze machen, sich empören, im Café philosophieren, die Regierenden hassen und seine Unzufriedenheit ausdrücken, ohne gleich fürchten zu müssen, dass man die nächsten Jahre in Einzelhaft im Gefängnis verbringen wird. In der jungen tunesischen Demokratie hat ein jeder und jede alle elementaren Rechte, die die persönliche Freiheit ausmachen. Davon mag man nicht satt werden, aber das ist eine wesentliche Errungenschaft.
Meinen französischen Freunden, die das Gefühl haben, dass sich eine Mullah-Republik nach dem Vorbild Teherans gebildet hat, sage ich nein, das stimmt nicht. Auch wenn so manche Gruppen das versuchen. In den zehn Jahren in Chatelet-les-Halles habe ich mich zehnmal unsicherer gefühlt. Hier muss alles neu aufgebaut werden, Tunesien macht einen Schritt nach vorne, dann zwei nach hinten, zwei auf die Seite usw. Der teuflische Rhythmus der Gerüchte, Informationen und Debatten ist ermüdend, vergiftet die Moral und führt uns in die Irre. Aber diese Schlacht muss geschlagen werden.
Boussa,
Benoît Delmas
1. „La régente de Carthage“ von Nicolas Beau und Catherine Graciet. Dieses Buch ist der von Leïla Ben Ali ins Leben gerufenen Mafia gewidmet und verärgerte die Diktatur.
Foto : Lilia El Golli – @Liloone. Auf der Tafel, das das Kind in der Hand hält, steht: „Ich liebe dich“.
Seit April 2010 bieten wir mit unserer Plattform “Die Arabische Welt in Aufruhr” die Möglichkeit, den “Arabischen Frühling” aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ab Februar 2013 verfolgt ARTE den Wandel in diesen Regionen langfristig mit immer mehr Dokumentarfilmen, Reportagen im ARTE Journal sowie in ARTE Reportage.
Bis dahin betrachten wir die religiösen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in drei exemplarischen Ländern! Begleiten Sie vier Wochen lang unsere drei Blogger: Benoît Delmas (Tunesien), Rima Marrouch (Syrien) et Ahmed El Lozy (Ägypten).
Revolution – und dann? – 3 Sichtweisen, ein Blog.
Benoît Delmas, Journalist und Schriftsteller, lebt (freiwillig) in Tunesien und ist 41 Jahre alt. Er ist Autor von vier Büchern (u. a. L’Histoire sécrète d’Endemol, erschienen bei Flammarion und Bal tragique chez Vivendi im Verlag Denoël). Er schrieb/recherchierte bereits für den Nouvel Economiste, L’Echo républicain, Technikart, Le Magazine Littéraire, Libération, Le Monde und TSR.
Blog: Le Western Culturel
Twitter: @westernculturel